Es ist Sommer. Ihr habt vielleicht mehr Zeit zum Lesen als sonst. Von Steven Spielberg kommt gerade der Film BFG in die Kinos, in dem ein immer sanft lächelnder Riese die Hauptrolle spielt. Und so traue ich mich, euch zwei Geschichten, die ich vor zwei Jahren geschrieben habe, hier vorzustellen, obwohl sie außer den Namen der Protagonisten nicht viel mit Italien zu tun haben. Märchen sind zeit- und ortsungebunden, um so mehr wenn es um die Liebe geht. Meine zwei Märchen sollen nicht nur im Computerarchiv schlummern, sondern euch Freude bereiten. Aus diesem Grund stelle ich sie hier vor.
Das Fest oder Begegnung zwischen dem Riesen Gigante und der Zwergin Piccina
Gigante und Piccina trafen sich an einem Ort, an dem es keiner für möglich gehalten hätte, nämlich an einem Ort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Bei ihren Streifzügen durch die Wälder, über Wiesen und Felder waren sie sich nie begegnet. Doch eines Tages fand in einem Gott verlassenen, weit entlegenen Dorf ein Fest statt, zu dem alle Bewohner der Gegend eingeladen waren. Die Nachricht von dem Fest hatte sich schnell herumgesprochen, denn es war eine Seltenheit, dass in dieser Gegend gemeinsam gefeiert, gesungen und getanzt wurde.
Gigante, der Riese mit den grünen Augen und dem melancholischen Lächeln, der viel Zeit alleine verbrachte, weil viele Leute aufgrund seiner Größe Angst vor ihm hatten, überlegte lange hin und her, ob er denn auf dieses Fest gehen sollte. Was ist, wenn plötzlich alle Leute vor mir davonlaufen?, fragte sich Gigante. Oder wenn die anderen sich zusammenschließen und mich angreifen aus Furcht ich könnte ihnen etwas antun? Mmhhh…Soll ich gehen, oder soll ich es mir lieber alleine zu Hause gemütlich machen? Er überlegte hin und her, dachte sich, lieber noch einmal darüber zu schlafen und am nächsten Tag zu entscheiden.
Der Zwergin Piccina ging es ähnlich. Sie vermied große Menschenmengen. Sie fühlte sich dann immer ganz unwohl, weil einfach alle um drei Köpfe über sie hinausragten. Außerdem schaffte sie es meistens nicht einmal, über die Theke zu schauen, sodass sie dann auch nichts zu essen oder zu trinken bekam. Was ihr außerdem Sorgen bereitete, war ihre Schüchternheit. Sie traute sich einfach nicht, andere Menschen anzusprechen. Und die meisten übersahen sie ja auch. Tja, und da Piccina von Geburt an einen Sehfehler hatte, wussten die Menschen nie genau, wen sie eigentlich ansprach, sofern sie sich das einmal traute. Deshalb antworteten sie dann lieber gar nicht. So wie Gigante, überlegte auch Piccina daher lange hin und her, ob sie denn auf dieses Fest gehen sollte und wie sie es anstellen konnte, dort jemanden kennenzulernen und sich wieder einmal zusammen mit anderen Menschen zu amüsieren. Sie fühlte sich ja oft so traurig und alleine.
Gigante wachte am nächsten Morgen auf und war guter Dinge. Er hatte davon geträumt, auf dem Fest die Frau seines Lebens kennenzulernen. Welch wunderbare Aussichten also? Seine Entscheidung stand also fest: Ich gehe auf das Fest und niemand wird vor mir davonlaufen. Nein, ich lerne dort sogar jemand ganz besonderen kennen. Denn bisher haben mich immer alle weiblichen Wesen gemieden, eben weil sie sich vor meiner Größe fürchteten. Aber die Frau meines Lebens kann sich ja gar nicht vor mir fürchten. Gigante freute sich schon sehr auf das bevorstehende Fest, pfiff ein fröhliches Lied während er seine Riesenhöhle aufräumte. Das Fest sollte am frühen Abend beginnen. Die Zeit wollte Gigante gar nicht schnell genug vergehen.
Piccina war am nächsten Morgen immer noch unschlüssig, ob sie denn auf das Fest gehen sollte. Dann dachte sie bei sich, dass sie nichts zu verlieren hätte. Denn dass sie oft niemand anschaute oder sie nur am Rande Blicke auf die sich amüsierenden Menschen warf, das war sie ja gewohnt. Also konnte es nur positive Überraschungen geben. Mehr Kopfzerbrechen bereitete ihr die Frage der richtigen Kleidung. Wenn sie nicht ganz untergehen wollte in der Menschenmenge, musste sie sich schon ordentlich herausputzen. Sie ging ihre spärliche Garderobe durch und entschied sich dann für ein knallgelbes Sommerkleid mit Puffärmeln. Dazu würde sie sich einen roten Strohhut aufsetzen. Gelb und rot, das ist doch eine schöne Kombination, dachte sie bei sich. Diese Farben kann doch niemand übersehen.
Es war ein herrlicher Sommertag, die Sonne strahlte, der Himmel glänzte im schönsten azurblau. Von nah und fern strömten die Menschen in das kleine Dorf zum angesagten Sommerfest. Gigante suchte sich einen Weg über Seitenstraßen. Er wollte nicht frühzeitig die Menschen in die Flucht treiben, so wie es ihm schon öfters passiert ist. Am Bauernhof, wo das Fest stattfand, angekommen, beobachtete er zuerst versteckt hinter einem Baum das bunte Treiben. Außer ihm schienen keine anderen Riesen anwesend zu sein. Wie denn auch, so groß wie er war ja auch niemand. Die anwesenden Menschen und Tiere tanzten, lachten, aßen und tranken. Alle schienen guter Dinge zu sein. Nur in einer Ecke sah er eine Zwergin mit langen, blonden Zöpfen. Trotz ihres knallgelben Kleides und einem roten Strohhut, schien sie niemand zu bemerken. Er beobachtete die Zwergin eine Weile. Sie sieht hübsch aus so in gelb und rot, dachte er sich, aber auch irgendwie traurig. Dann sah er sich die anderen anwesenden weiblichen Wesen an. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass darunter die Frau seines Lebens sein sollte. Träume sind vielleicht doch nur Schäume, sagte er sich.
Piccina hatte sich nach ihrer Ankunft auf dem Fest in eine Ecke gestellt, und versuchte sich einen Überblick über die Anwesenden zu verschaffen. Das war aufgrund ihrer Größe kein einfaches Unterfangen. Alle ragten über sie hinaus und schienen sie zu übersehen, wie immer. Sie überlegte, wie sie mit jemandem ins Gespräch kommen konnte. Es fiel ihr so schwer, einfach auf jemanden zuzugehen und ein Gespräch zu beginnen. Piccina liebte es zu tanzen. Vielleicht konnte es ihr auf der Tanzfläche gelingen, jemanden anzusprechen oder zumindest anzulächeln? Sie zögerte, denn die Tänzer und Tänzerinnen würden sie ja doch nur übersehen. Sie überlegte, ob sie sich vielleicht aus den in der Scheune herumliegenden dünnen Baumstämmen Stelzen basteln sollte. Dann würde sie sicher niemand mehr übersehen. Doch sie würde sich dadurch vielleicht nur lächerlich machen. Also verwarf sie auch diese Idee.
Plötzlich sah sie vor sich ein Paar Füße mit großen, roten Schuhen. Sie beugte ihren Kopf zurück, die blonden Zöpfe flogen in den Nacken, doch soweit sie sich auch nach hinten beugte, sie bekam das Gesicht des Menschen vor ihr nicht zusehen. Gigante beugte sich ganz tief hinunter, kniete sich vor Piccina und begrüßte sie: Grüß dich, schöne Zwergin, ich heiße Gigante. Und du? Sogar auf Knien war er immer noch um drei Köpfe größer als Piccina. Doch nun konnte Piccina auch sein Gesicht sehen. Ihr fielen sofort seine schönen grünen Augen und sein melancholisches Lächeln auf. Sie fand seine Augen und seinen Mund wunderschön. Sie konnte es immer noch nicht fassen, auf diesem Fest angesprochen worden zu sein. Das war ihr noch nie im Leben passiert. Wie kommt es, dass der Riese sie nicht übersehen hatte. Während Piccina all diese Gedanken durch den Kopf schwirrten, fiel ihr plötzlich ein, dass Gigante ja immer noch auf eine Antwort wartete. Sie lächelte ihn an und sagte dann ganz ruhig: Ich bin Piccina. Sogleich fiel Piccina ein, dass sie ja so gerne tanzen würde. Sie tanzte für ihr Leben gerne, doch hatte sie nie einen Partner gefunden und es also nur für sich alleine zu Hause das Tanzbein geschwungen. Doch wie sollte das gehen? Sie waren ja von der Größe viel zu unterschiedlich. Der eine riesig und die andere winzig klein. Doch sie fasste ihren ganzen Mut zusammen und fragte: Gigante, möchtest du mit mir tanzen? Gigante schmerzten schon langsam die Knie, doch er lächelte Piccina immer noch an. Es gefiel ihm, dass sie ihn fragte, denn er hätte sich das nicht getraut. Hoch erfreut strahlte er sie an. Dann sagte er nur: Klettere auf meine Schultern und los geht’s! Piccina, die zwar winzig war, aber sehr sportlich, schwang sich auf die Schultern von Gigante. Als dieser dann aufstand, glaubte sie, zu träumen. Die Welt sah plötzlich so anders aus von dort oben. Jetzt war Piccina zum ersten Mal größer als alle anderen um sie herum. Zum ersten Mal sahen die Menschen und die Tiere zu ihr hinauf. Ich werde gesehen, jubelte sie innerlich. Gigante wiegte sich langsam zum Rhythmus der Musik. Er hätte Piccina zwar lieber ins Gesicht gesehen, doch war er auch so glücklich, mit ihr zu tanzen. Er war überrascht, dass die anwesenden Tänzer und Tänzerinnen zwar zur Seite getreten waren, doch niemand war aus Furcht vor ihnen davongelaufen. Und so tanzten sie so lange weiter, bis Gigante müde geworden war. Er war nicht sicher, ob Piccina die Frau war, von der er geträumt hatte, also die Frau seines Lebens. Fast hatte er aber den Verdacht, dass sie es sein könnte. Er hatte sich noch nie so wohl gefühlt, so glücklich und zufrieden. Und auch Piccina war sehr glücklich.
Piccina auf der Suche nach Gigante
Piccina war überglücklich, dass sie nun endlich nicht mehr alleine durchs Leben zog. Außerdem konnte sie nun auf die Schultern von Gigante klettern, war dann größer als alle anderen und wurde endlich nicht mehr übersehen. Ach, was für ein herrliches Gefühl. Monatelang waren die beiden unzertrennlich. Gigante wusch, kochte und bügelte, während Piccina draußen im Wald nach Nahrung suchte. Sie war eine ausgezeichnete Jägerin.
Eines Abends, als Piccina von der Jagd zurückkehrte, und sich auf ein lecker zubereitetes Abendessen freue – Gigante war ein vorzüglicher Koch – fand sie die Höhle verlassen. Piccina konnte sich die Situation nicht erklären. Wo steckte Gigante nur? Sie hatten weit und breit auch keine Nachbarn oder Verwandte, die er besuchen hätte können. Sie musste in der Höhle auch nicht lange suchen, um zu wissen, dass er weg war. Gigante war durch seine Statur ja nicht zu übersehen. Ob er wohl nur einen Spaziergang gemacht hatte, während er auf sie wartete? Als es dunkel wurde, machte sich Piccina immer größere Sorgen und war sehr traurig. Was ist nur mit ihrem allerliebsten Gigante passiert? Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen, dachte sie ganz betrübt. Sie legte sich schlafen, konnte aber vor Angst und Sorge kein Auge zutun. Am nächsten Morgen suchte sie wieder die ganze Höhle ab, ob er ihr denn nicht wenigstens eine Nachricht hinterlassen hatte. Und tatsächlich fand sie einen kleinen Zettel in Gigantes Lieblingstasse: Adieu, meine Kleine. Sei nicht traurig und warte nicht auf mich.
Die Nachricht zog Piccina den Boden unter den Füßen weg und schwupps, schon lag sie flach auf dem Rücken. Tränen schossen ihr in die Augen, sie konnte kaum atmen. Minutenlang lag sie so auf dem harten Höhlenboden. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Gigante, ihr Märchenprinz mit den wunderschönen grünen Augen und dem melancholischen Lächeln, hatte sich einfach aus dem Staub gemacht, ohne eine Erklärung. Wenn er doch wenigstens mit ihr geredet hätte. Es lässt sich doch alles lösen, wenn man darüber spricht.
Piccina wurde immer trauriger und trauriger. Sie weinte viel und aß kaum etwas. Hin und wieder ging sie in den Wald, doch selbst die Jagd machte ihr keine Freude mehr und so hatte sie auch keinen Erfolg. So ganz alleine hatte sie ihre ganze Lebensfreude verloren. Sie wusste weder aus noch ein. Sollte sie ihn suchen? Aber wo? Und wenn er nicht mit ihr reden wollte, dann würde er sicher böse auf sie sein, wenn er sie sah. Wenn sie doch nur wüsste, was Gigante so bedrückt hatte, dass er einfach davonlief. Sie musste jemanden um Rat bitten. Schließlich fielen ihr ihre Freundinnen Gioia, Allegra und Gaia ein. Die wussten bestimmt einen Rat.
Die drei Freundinnen freuten sich riesig, Piccina zu sehen. Denn diese hatte sie nicht mehr besucht, seit Gigante ihr ein und alles war. Nachdem Piccina erzählt hatte, was passiert war, grübelten die Freundinnen über eine mögliche Lösung nach. Sie wollten Piccina ja so gerne wieder glücklich sehen. Da fiel Piccina plötzlich ein, dass Gigante vielleicht bei seinem Freund Gigantissimo war. Sie war ganz aufgeregt. Konnten sie dort einfach so auftauchen? Und was sollte sie dann überhaupt sagen? Würde Gigante sie nicht wütend zurückweisen? Wenn er schon weggelaufen ist, dann wollte er wahrscheinlich doch wieder alleine leben. Piccina hatte ehrlich gesagt Angst vor der Reaktion ihres riesigen Freundes. Wenn er wollte, konnte er sie mit einem Fuß zerquetschen.
Da Piccina nie wieder so einsam und unglücklich sein wollte wie früher, fasste sie mit Unterstützung ihrer Freundinnen ihren ganzen Mut zusammen und machte sich auf den Weg. Sie kannte den Weg zur Höhle des Riesen Gigantissimo nur ungefähr. Sie war noch nie dort gewesen. Nach einer langen Wanderung kamen Piccina, Gioia, Allegra und Gaia vor der Höhle von Gigantissimo an. Zögerlich klopfte Piccina an das Holztor. Nichts. Dann klopfte sie noch einmal, etwas lauter. Plötzlich hörten die Freundinnen ein lautes Poltern. Ein Riese, der noch einmal um eineinhalb Köpfe größer als Gigante war, öffnete das Tor. Da sein Blick geradeaus gerichtet war, konnte er Piccina und die drei Freundinnen zuerst gar nicht sehen. Er wollte schon wieder das Tor zuschlagen, als Piccina lauthals „Halt!“ schrie. Da erst sah Gigantissimo die vier Zwerginnen. Ja, meine Damen? fragte er freundlich. Was kann ich für euch tun? Ich will Gigante sehen. Ist er bei dir? sprudelte es aus Piccina heraus. Ja, er ist hier. Und er hatte so gehofft, dass du ihn suchen würdest. Denn eigentlich geht es ihm ohne dich viel schlechter. Ja warum ist er dann weggelaufen? fragte Piccina überrascht. Tja, das musst du ihn schon selbst fragen, meinte Gigantissimo. Wenig später fielen sich Piccina und Gigante erst einmal überglücklich in die Arme. Piccina wollte nun gar nicht mehr wissen, warum Gigante von ihr weggelaufen war. Sie war glücklich, Gigantes grüne Augen und sein melancholisches Lächeln zu sehen. Gigante hob Piccina zufrieden auf seine breiten Schultern und gemeinsam zogen sie wieder durch die Wälder und freuten sich des Lebens.
Ich freue mich, wenn ihr mir eure Kommentare dazu auf info[@]italianoperpassione.at oder Facebook schreibt. Außerdem würde ich mich über Illustrationen dazu freuen.